Schule der Vielfalt
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„Fragt dazu die älteren Herrschaften meiner Partei, nicht mich!“

… beantwortete Tim eine Schülerfrage. Denn für vergangene Versäumnisse seiner Partei (z.B. wie das massenhafte Sterben von Flüchtlingen im Mittelmeer zugelassen wurde, eine klare Menschenrechtsverletzung) kann nicht mitverantwortlich gemacht werden, wer als Schüler politisiert wurde, als Neonazis seine Freunde beleidigten, die anderer Herkunft und Haarfarbe als er waren und die Entscheidung fällte, sich künftig einzumischen. Der Student leitet inzwischen den Oberhausener Juso-Verband. Wie wichtig es ist, gerade den jungen und oft dynamischeren Kräften der Parteien ausreichend Gehör zu verschaffen, vor allem bei Erstwählern oder noch Jüngeren, spürt man im Alltag oder in den Medien nicht immer. Doch woher sonst sollen die nötigen Energien, Ideen und Zukunftsimpulse kommen, wenn nicht von dieser Generation? Wie überzeugend und kompetent politische Positionen von jungen Leuten vermittelt werden können, haben Schülerinnen und Schüler vielleicht noch nicht oft erlebt. Die am Dienstag an der Gesamtschule Osterfeld organisierte Kurzvorstellung von Wahlprogrammen fünf demokratischer Parteien durch die VertreterInnen ihrer Oberhausener Jugendorganisationen bot dafür eine gute Gelegenheit, trotz corona-bedingter Einschränkungen.

In ihren jeweiligen Kursräumen hatten sich insgesamt fünf Lerngruppen aus drei Jahrgängen versammelt, um per Videokonferenz die Präsentationen der Jugendvertreter zu verfolgen und in einer anschließenden Wahlsimulation ihre Erst- und Zweitstimme abzugeben. Ekaterini Paspaliaris und Tobias Aarns (Junge Union / CDU), Tim Tzscheppan (Jusos / SPD), Louisa Baumann (Grüne Jugend Oberhausen / Bündnis 90 /Grüne), Mert Iygül (Linksjugend / Die Linke) und Max Baum (Junge Liberale / FDP) stellten sich den Fragen der Schüler am virtuellen Rednerpult.

Der aktuelle technische Ausrüstungsstand für den hochgehandelten Programm-Punkt „Digitalisierung von Schulen“ konnte übrigens während der Veranstaltung leidlich und live erfahren werden – der Nachholbedarf lag auf der Hand, hier wünschen sich wohl alle WählerInnen einfach nur die reibungslose Zusammenarbeit künftiger Koalitionspartner bei schnellstmöglichem Umsetzungstempo, denn der Netzausbau sei in den vergangenen 16 Jahren voll verschlafen worden, wie Max Baum kritisiert.

Auch andere Schnittmengen der vorgestellten Parteiprogramme sehen auf den ersten Blick eher größer aus als vielleicht erwartet: Alle wollen sich um Wohlstand, Verbesserung sozialer Absicherungen, gute Jobs, Klimaschutz und Zukunftsinvestitionen kümmern, dafür keine Steuern für alle erhöhen, aber Bürokratie abbauen. Denn die Zukunft gehört den Erfindern, nicht den Verhinderern, betont Frau Paspaliaris. Das klingt gut, wie auch andere zentralen Programmlosungen der CDU: wirtschaftliche Dynamik, internationale Wettbewerbsfähigkeit, Klimaschutz und Wachstum … Aber halt, Wachstum und das immer mehr und mehr, gab es da nicht das Problem mit dem einen Planeten (also drei zu wenig)? Mehr bauen, damit alle gut wohnen können, ohne Mietendeckel, Begrenzungen, Verbote – ja gerne, aber wenn schon eine Mietwohnung kaum bezahlbar ist, woher dann jedem sein Einfamilienhaus? Und hatten unsere jüngsten Hochwasserprobleme nicht auch mit dem hohen Flächenversiegelungsgrad zu tun? Jedenfalls wäre es billiger, vorausschauend in Klimaschutz zu investieren, als die Klimawandelfolgen finanzieren zu müssen, zeigt sich Frau Baumann von der Grünen Jugend überzeugt. Die zu wählende Regierung sei im Übrigen die letzte, die noch aktiv Einfluss auf die Klimakrise nehmen könne, ehe es zu spät sei. Kohleausstieg jetzt, 100 % erneuerbare Energien und Klimaneutralität schnellstmöglich lauten die ehrgeizigen Ziele der Grünen. Mehr E-Autos statt Benziner fordert Ihre Partei, aber welche Ressourcenbilanzen und Förderbedingungen bei den seltenen Erden sind eigentlich hierfür zulässig, fragen SchülerInnen nach, und, was tun, wenn andere Industriestaaten in der Welt nicht genauso vehement an den Zielen des Pariser Klimaschutzabkommens arbeiten? (Sie verorten die weltgewichtigen „Klimasünder“ übrigens meist in China oder Indien, warum eigentlich nicht auch in den USA incl. ihrer gigantischen Rüstungsindustrie?) Einig zeigen sich Grüne, SPD und Linke darin, dass klimaschädliche Emissionen durch Ausbau des ÖPNV und Verringerung des Individualverkehrs reduziert werden müssten: Mobilitätsgarantie für alle sei dabei anzustreben, nicht zuletzt auch durch kostenlose Nahverkehrsangebote. Max Baum (FDP) gibt hingegen zu bedenken, dass nur 10 % des schädlichen CO2-Ausstoßes vom weltweiten Verkehrsaufkommen verursacht werden, 50 % hingegen von der Landwirtschaft. In weniger Fleischverzehr und klimaneutraler Laborzüchtung von Fleischersatz sieht der Biologiestudent größere Einsparpotentiale, so wie seine Partei überhaupt für Forschung, Innovation und Anreize statt Verbote plädiert.

Was die Wege zum „Wohlstand für alle“ betrifft, unterscheiden sich die Parteien dann doch. Auch wenn die meisten JugendvertreterInnen die Grenzen des „Hartz IV“-Systems erkennen: Die FDP lehne ein bedingungsloses Grundeinkommen ab und trete für die Schaffung von mehr und besseren Arbeitsplätzen ein, weil ansonsten der Arbeitsanreiz wegfallen würde. (Es sei nun einmal so, dass nicht alle Millionäre werden können.) Unternehmer dürften nicht verteufelt werden, es sei im Gegenteil nötig, nicht nur Studierenden und Azubis ein geregeltes Einkommen, sondern auch ein Gründer-Bafög für junge Leute zu ermöglichen, die sich selbständig machen wollen, so erläutert es Max Baum von den JuLis.  Die Jusos und die jungen Grünen und Linken wollen hingegen „Hartz IV“ durch eine sanktionsfreie Grundsicherung abgelöst sehen, ergänzt durch die Garantie von Ausbildungsplätzen und Anhebung von Mindestlöhnen und Mindestrenten. Die Linke sieht die Mindestabsicherung für ein gutes Leben bei 1200 Euro und plädiert zur Finanzierung für die höhere Besteuerung der Besserverdienenden. Wenn es nach den Jusos geht, so seien die Gemeinsamkeiten mit der CDU inzwischen eher aufgebraucht, die mit den Grünen und Linken zumindest in der sozialen Frage größer. Sollte ein von diesen drei Parteien angestrebter Politikwechsel tatsächlich an den Differenzen in der Außenpolitik scheitern? Mert Iygül bemühte sich um eine Versachlichung der oft verkürzt wiedergegebenen Position der Linken in Sachen NATO: Das Militärbündnis (dem seine historischen Gründungsmotive zeitweilig abhanden gekommen waren und das die Chancen des von Gorbatschow eingeleiteten Abrüstungs- und Friedensprozesses bekanntlich ungenutzt verstreichen ließ) solle langfristig durch ein gemeinsames europäisches Sicherheitssystem und Friedensbündnis unter Einschluss von Russland ersetzt werden, Waffenexporte seien zu verbieten und Auslandeinsätze der Bundeswehr strenger zu prüfen. Auch die Jusos sehen großen Handlungsbedarf bei der Abrüstung und gemeinsamen europäischen Reaktion auf weltweite Probleme.

Ob nun angeregt durch die Verheißung der Legalisierung bzw. Entkriminalisierung von Cannabis-Konsum seitens der jungen SPD-, Grünen-, Linken- und FDP-VertreterInnen oder die angestrebte Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre (durch SPD und FDP) – am Ende wurde in allen Lerngruppen eifrig gewählt. Hier die Auszählungsergebnisse:

Danke an alle TeilnehmerInnen dieser Veranstaltung. Und: Verschafft euch weiterhin politischen Durchblick und Gehör, mischt euch ein! Nächste Gelegenheit: Der bundesweite Klimastreik mit über 400 Demos am 24. September 2021, zu dem Aktivisten von Fridays for Futur auch in Oberhausen aufrufen. https://fridaysforfuture.de/allefuersklima/ 

Übrigens: Keine der vorgestellten Parteien will mit der AfD koalieren. Dazu gab es eindeutige Statements von allen anwesenden Jugendvertretern. Aber sollte nicht wenigstens mit deren Kandidaten diskutiert werden? Das bejahte Max Baum von den Jungen Liberalen, denn zum einen sei von besseren Argumenten der anderen Parteien auszugehen, und zum anderen würden sich AfD-Mitglieder bei ihren Auftritten gelegentlich so überzeugend blamieren, dass sich ihre Anhängerschaft danach merklich reduzieren würde. Die Organisatoren der Veranstaltung der GSO als Teilnehmerin des Schule-ohne-Rassismus-Netzwerkes hatten sich gegen eine Einladung entschieden. Denn, so leitete Nico Grönke seine Moderation ein: „Wer islamfreie Schulen fordert, muss damit rechnen, dass sich andere um AfD-freie Schulen kümmern“.